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Schappe Angenstein (Florettspinnerei)

Betriebsgründung
1862 baute die Firma C. Bertsché & Cie. gegenüber dem Bahnhof Aesch auf Berner Boden (Angenstein, Gemeinde Duggingen) eine Fabrik zur Herstellung von sog. Schappe oder Florettseide (Garn aus Rohseideabfällen). Die «Schappe Angenstein» – wie die Fabrik in der Umgangssprache genannt wurde – verfügte im Vergleich zu ähnlichen Betrieben dieser Zeit über eher beschränkte Produktionsmöglichkeiten. Sie war aber einer der ersten Produktionsbetriebe für Samtschappe und fand ihre Abnehmer insbesondere von 1869 an in Krefeld (D), einem internationalen Zentrum der Samt- und Plüschherstellung.

Krisenjahre
1873 wurde die Firma auf dem Gipfel ihres Erfolgs in eine Aktiengesellschaft mit CHF 1.8 Mio Aktienkapital unter dem Namen «Floretspinnerei Angenstein» umgewandelt. Im selben Jahr stürzte die gesamte Branche in eine schwere Krise. Die verbesserten Transportmöglichkeiten nach Eröffnung des Suezkanals (1869) und die Erfolge des neuen Pasteur-Verfahrens bei der Bekämpfung der Seidenwurmkrankheit in Europa drückten auf den Seidenpreis. In der Folge nahm auch die Rentabilität der arbeitsintensiven Florettseideproduktion ab. Nach 1878 setzte die Einführung von gesetzlichen Schutzmassnahmen (11-Stundentag, Einschränkung der Nachtarbeit) der Ausbeutung von Fabrikarbeitern/-innen zumindest gewisse Schranken. In Angenstein reagierte zudem die Geschäftsleitung zu spät auf die veränderte Nachfrage der Mode, die in den Krisenjahren statt Samt billigere Stoffe bevorzugte. Die Produktion von unverkäuflicher Ware wurde zu lange weitergeführt, sodass die S. im Laufe der 1870er-Jahre grosse Verluste einfuhr. 1880 wurde das Aktienkapital anlässlich einer Sanierung auf die Hälfte herabgesetzt.

Erholung, erneute Krise und Liquidation
Das folgende Jahrzehnt brachte Erholung: Im Durchschnitt konnte eine Dividende von 6% ausgeschüttet werden. Doch in der neuerlichen Krise, die 1891 einsetzte, musste der Betrieb zeitweise auf 3 Tage in der Woche eingeschränkt werden. 1995 ging das Unternehmen in Liquidation. Die Fabrikgebäude und die Wasserkraftanlage wurden 1897 an eine neue Firma gleichen Namens verkauft.

Modernisierung und Fusion
Der Initiant dieser Übernahme war der spätere Baselbieter SP-Landrat Stephan Gschwind aus Oberwil, der sich für das Genossenschaftswesen im Birseck einsetzte. Unter seiner Leitung entstand eine neue Kämmelei (Anlage für den wichtigen Arbeitschritt zur Vorproduktion einer gleichmässigen Faser) und das betriebseigene Wasserkraftwerk wurde rationalisiert und mit modernen Turbinen bestückt. Der daraus resultierende Energieüberschuss wurde ab 1901 für den Betrieb einer rentablen Eisfabrik am anderen Ufer der Birs abgeführt. Das neue Unternehmen wirtschaftete bis 1900 mit Erfolg, danach abwechselnd mit kleinen bis mittleren Verlusten bzw. Gewinnen. 1905 ging die S. einen Vertrag mit der Firma Peignages & Filatures de Bourre de Soie in Paris ein. Fortan bezog sie das gesamte Rohmaterial von dort und lieferte die gesamte Jahresproduktion dorthin. 1910 wurde der Angensteiner Betrieb ganz von Peignages & Filatures de Bourre de Soie aufgekauft. Die neue Besitzerfirma ging schon 1912 in die Industriegesellschaft für Schappe mit Sitz in Basel über. In diesem Konzern hatten sich seit 1881 bereits mehrere Betriebe im In- und Ausland zusammengeschlossen – darunter auch die Schappe Grellingen und die Schappe Arlesheim in der näheren Umgebung. Die Eisfabrik wurde trotz Rentabilität aufgegeben, da sie offenbar nicht mehr in das auf Schappeproduktion spezialisierte Grossunternehmen passte.
Teil eines Grosskonzerns
Die 1920er Jahre waren für die Schappeindustrie im Allgemeinen und so auch für die Industriegesellschaft für Schappe sehr erfolgreich. In der grossen Wirtschaftskrise der 1930er Jahre, kam der Konzern dann aber stark unter Druck und musste 1932 den Betrieb in Angenstein vorübergehend schliessen. Erst als sich der Absatzmarkt für Schappe ab 1933 wieder langsam erholte und die Industriegesellschaft ihre Produktepalette erweiterte trat eine Entspannung der Lage ein. Der Betrieb in Angenstein konnte wieder aufgenommen werden.
Während der Zeit des Zweiten Weltkriegs produzierte die Industriegesellschaft weiter, vernachlässigte aber die Anpassung der Arbeitsbedingungen und der Löhne, die auf dem Niveau der Krisenjahre blieben. Dies führte zu Arbeitskonflikten und 1945 zu einem weitum beachteten Streik der Arbeiterinnen der Schappe Arlesheim. Sie konnten erhebliche Anpassungen und einen Gesamtarbeitsvertrag für die ganze Branche durchsetzen.

Fusion und Schliessung
1961 schloss sich die Industriegesellschaft für Schappe mit all ihren Betrieben und mit der Société Anonyme de Filatures de Schappe Lyon zur Holdinggesellschaft Schappe AG mit Sitz in Genf zusammen. Sie verlegte sich auch mit ihrer 1964 mit anderen Unternehmen gegründeten Gesellschaft Schappe-Tex AG vermehrt auf die Herstellung und den Verkauf von texturierten Garnen und Kunstfasern. In der Folge wurden während der 1960er-Jahre einige Schappe-Produktionen in Basel, Frankreich und auch in Angenstein geschlossen. 1967 verkaufte die Schappe AG ihre Liegenschaft in Angenstein, in der zuletzt nur noch eine Kämmelei untergebracht war.

Autor*in der ersten Version: Kiki Lutz, 04/12/2012

Letzte Änderung: 05/12/2012

Archivbestände

SWA Schweizerisches Wirtschaftsarchiv Basel, Dokumentensammlungen:
Industriegesellschaft für Schappe (Textilunternehmen) – Basel/Arlesheim,
Signatur: H + I Bd 7
Schappe-Tex Unternehmungen (Textilunternehmen)– Basel,
Signatur: H + I Bd 252
Schappe AG (Textilunternehmen)– Basel/Genève,
Signatur: H + I Bd 231

Bibliografie

Anna C. Fridrich, «Industriegesellschaft für Schappe», in Historisches Lexikon der Schweiz [Online-Version], Stand vom 30.10.2012: http://www.hls-dhs-dss.ch/textes/d/D43013.php
F. Mangold und H.F. Sarasin, Industriegesellschaft für Schappe. Entstehung und Entwicklung, Basel 1924
Alban Müller, Die Entwicklung der Industrien im unteren Birstal mit besonderer Berücksichtigung des Standortes, Dissertation Universität Basel, Laufen 1940, S. 66-87
Schappe AG, Jahresbericht 1967

Zitiervorschlag

Kiki Lutz, «Schappe Angenstein (Florettspinnerei)», Lexikon des Jura / Dictionnaire du Jura (DIJU), https://diju.ch/d/notices/detail/1000528-schappe-angenstein-florettspinnerei, Stand: 20/04/2024.

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