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Jurassia

Im Juli 1877 gründete der damalige Zentralpräsident des Schweizerischen Studentenvereins (Schw. Stv.), Louis Viatte, die erste jurassische Verbindung des Schw. Stv. Das Ziel bestand darin, die auf alle Schweizer Universitäten und Hochschulen verteilten Studenten aus dem Jura zu vereinen. Die Verbindung entstand vor dem konfliktreichen Hintergrund des Kulturkampfs im Jura und in klar katholischem Geiste. Obwohl die Gründungsversammlung bereits im August 1877 in Bassecourt stattgefunden hatte, dauerte es noch bis 1883, bis von einer eigentlichen Verbindung des Schw. Stv. die Rede sein konnte. Schon ein Jahr später ging sie aufgrund fehlender Mitglieder wieder ein und wurde erst 1895 auf Initiative des Präsidenten, Casimir Folletête, und unter dem Namen «Jurassia» wieder zum Leben erweckt. Die Statuten wurden an der Generalversammlung von 1895 in Saignelégier verabschiedet, wobei die katholische Grundgesinnung beibehalten wurde – in einer Zeit, in der die Konservativen dem Katholizismus einen wichtigen Platz in einer zunehmend säkularisierten Gesellschaft erhalten und ihre religiösen Rechte angesichts der neuen, laizistisch geprägten Berner Kantonsverfassung von 1893 hochhalten wollten. Die J. formierte sich zu einem wichtigen Knotenpunkt der Konservativen und ihrer politischen Bestrebungen.

Um die Jahrhundertwende betätigte sich die J. vor allem auf drei Gebieten: Fabrik, Schule und Presse. Sie verband sich mit katholischen Arbeiterkreisen und folgte darin einer Doktrin der Enzyklika von Papst Leo XIII., Rerum novarum aus dem Jahr 1891. 1897 ermöglichte die J. mit regelmässigen finanziellen Zuwendungen die Gründung des Collège Saint-Charles in Pruntrut durch Ernest Daucourt. Dort wurde 1925 die neue Schülerverbindung «Himéria» unter dem Dachverband des Schw. Stv. gegründet, aus der sich später die meisten Jurassia-Mitglieder rekrutierten. Im Bereich Presse förderte die J. die sog. «bonne presse», d.h. die Presse katholischer Ausrichtung. Sie verteilte insbesondere Gratisabonnements an Familien der unteren Schichten, die sich sonst keine Zeitung leisten konnten. 1921 wurde zu diesem Zweck die «Société de la Bonne Presse» gegründet (spätere Besitzerin der Zeitung Le Pays, seit 1983 «Le Pays SA»). Als Geschäftsführer dieser Gesellschaft fungierte zunächst Abbé Joseph Barthoulot, dann Abbé Antoine Berberat und später Martin Girardin. Bis 1972 kamen insgesamt 487 Familien in den Genuss ihrer Dienstleistungen.

In den 1920er Jahren durchlebte die J. eine Identitätskrise. Sie stand zwischen dem «Katholischen Volksverein (SKVV)», der sich sozialen Themen widmete, und der Partei «Parti démocratique catholique» (PDC), die Politik und Wirtschaft betrieb. Zunächst liess sich die J. nicht in den Aufbau der politischen Jugendorganisation «Jeunesse démocratique catholique du Jura» einbinden, änderte aber 1933 ihren Kurs, indem sie sich zum ersten Mal vom SKVV distanzierte und sich in der Politik engagierte. Dieser Wandel hatte zwei Gründe: Einerseits versuchte sich die J. von der 1931 gegründeten «Jeunesse Etudiante Catholique» abzugrenzen, wie auch von der «Jeunesse ouvrière catholique» und der «Jeunesse agricole catholique», andererseits folgte die J. damit einem übergeordneten, vom Dachverband Schw. Stv. vorgegebenen und Weg.
Ende 19. Jh. schien die J., dem gemeinsamen Feiern zu viel Raum eingeräumt und sich nicht mehr genügend um soziale und kulturelle Belange gekümmert zu haben. Die Reden an den Generalversammlungen lassen darauf schliessen, dass sie ab 1900 wieder mehr auf Kurs kam. An der Generalversammlung von 1966 wurde der «Prix Jurassia» kreiert, der jeweils einem aktiven oder passiven Mitglied für eine hervorragende Leistung oder eine bemerkenswerte Arbeit verliehen werden sollte – als Ermutigung zum Studium und der Förderung der Kultur. Ausgezeichnet wurden u. a. Bernard Prongué für seine Dissertation (1969), François Lachat für seine Lizentiatsarbeit (1979) und Georges Schindelholz für seine journalistische Tätigkeit (1972).
1960 änderte die J. ihre Bezeichnung von «Section cantonale bernoise des E.S.» in «Association jurassienne des E.S.».
Unter den Mitgliedern finden sich einige berühmte Namen der jurassischen Politik und Geistlichkeit, darunter Casimir Folletête (1903 errichtete die J. ihm ein Denkmal in Noirmont), Ernest Daucourt, Louis Viatte, Xavier Jobin, Henri Schaller, Jean Gressot, Jean Wilhelm, Emile Fähndrich, François Lachat.

Weitere Verbindungen für jurassische Studenten/-innen waren/sind:
- Blarentia, Kantonsschule Pruntrut, gegründet 1899, existierte ca. 25 Jahre
- Stella Jurensis, Lehrerseminar in Pruntrut, ab 1902 (entstanden aus der Normalia und der Rauracia)
- Paradisia, 1919, eine Verbindung katholischer Studenten aus dem Laufental
- Himéria, 1925, Collège St-Charles, Pruntrut
- Industria, Technikum Burgdorf, gegründet auf Initiative von Abbé Louis Rippstein (Ende 19. Jh.)
- Burgundia, in Bern
- Petromariana, Collège des Bénédictins in Delle (F)
- Nuithonia, Collège Saint-Michel, Freiburg i.Ü.

Gründungsmitglieder:
Louis Viatte
Joseph Jobin
Charles Girardin
Léon Cattin
Célestin Hornstein
François Beuret
Joseph Chalverat
Ernest Péquignot
Joseph Queloz

Autor*in der ersten Version: Emma Chatelain, 21/01/2016

Übersetzung: Kiki Lutz, 21/01/2016

Bibliografie

Jean-François Roth, Jurassia 1877-1977 : centenaire de l'Association jurassienne de la SES, Porrentruy, La Bonne Presse, 1977

Zitiervorschlag

Emma Chatelain, «Jurassia», Lexikon des Jura / Dictionnaire du Jura (DIJU), https://diju.ch/d/notices/detail/7463-jurassia, Stand: 29/04/2024.

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